Das Hönnetal zwischen Krieg und Frieden
Auszug aus: Harald Polenz “Zur Geschichte des Amtes und der Stadt Balve” (1980), Seite 195-219.
Friede und Freiheit sind die kostbarsten Güter der Zivilisation. Dennoch ist es kaum ein halbes Jahrhundert her, dass Krieg die Staaten der Erde an den Rand des Ruins brachte, Millionen von Menschen starben und im Namen der Freiheit, die so oder so, je nach der Interessenlage gedeutet wurde, die Städte und Dörfer mit Feuer, Hungersnöten und Epidemien überzogen wurden.
Auch das Balver Land, eigentlich abseits gelegen von den großen Zentren der Weltgeschichte, spürte im Verlauf seiner langen Geschichte die Auswirkungen der unseligen Gelüste weniger Mächtiger, die versuchten, die Erde unter sich zu ihrem Vorteil aufzuteilen. Der Kampf um Macht und Territorium begann bereits in den Urtagen der Menschheit. Archäologen fanden in frühgeschichtlichen Gräbern Schädel, die eindeutig durch Waffen hervorgerufene Kopfverletzungen aufwiesen. Was zuerst Auseinandersetzung um Jagdgründe war, wurde später, als sich der Mensch vom Nahrungssucher zum Nahrungserzeuger wandelte, der Kampf um die besseren Weidegründe, das bessere Ackerland. Ganze Völkerscharen zogen umher, vertrieben die Ureinwohner oder unterwarfen sie in die Sklaverei. Zunehmende Bevölkerungsdichte zwang zur Expansion, die nur mit dem Schwert zu verwirklichen war.
Römische Einflüsse?
Die in unserem Gebiet vermutlich siedelnden germanischen Stämme der Sugambrer und Chattuarier sahen sich zum Beispiel römischer Expansionspolitik gegenüber, besonders nach der Niederlage des Varus 9 n. Chr. im Teutoburger Wald. Tacitus hat die späteren Kriegszüge des Germanicus beschrieben und in einigen Passagen auch Ortsangaben über den Vormarsch der römischen Legionen gemacht, die vom Rhein bis zur Eder, Lippe und Ems vorstießen, um Arminius zu vernichten. Es fehlen uns archäologische Funde jener Zeit, die uns Auskunft geben könnten über die kriegerischen Auseinandersetzungen im Germanenland. An der »römischen Pilumspitze« aus der großen Burghöhle im Hönnetal, gefunden 1956 und zuerst von Fachleuten als römisch gedeutet (1. Hälfte des nachchristlichen Jahrhunderts), sind inzwischen erhebliche Zweifel aufgetreten. Es bleibt nach wie vor fraglich, ob Legionäre römischer Herkunft tatsächlich den Balver Raum betreten haben. Die beiden römischen Bronzemünzen aus Garbeck aus der Zeit des Kaisers Hadrian (117-138 n.Chr.) können durch Handel mit römischen Provinzen, aber auch durch germanische Söldner in römischen Diensten in das Hönnetal gekommen sein. Ebenso verhält es sich mit der kaiserzeitlichen Irdenware, die sicher importiert wurde und vornehmlich in der Burghöhle, aber auch auf der Siedlungszelle Sielhofe (Silhaue) Verwendung fand. Selbst ein Stückchen »terra sigilata«, der typischen roten römischen Töpferware, fand man in der großen Burghöhle. Eine Fundkarte römischer Münzen für den Bereich des Hellweges und des südlichen Sauerlandes zeigt, wie die Funde von Norden in Richtung Süden immer dünner werden. Während im Verlauf des Hellweges recht seltene Münzfunde gelingen, bleibt für unseren Raum lediglich Garbeck übrig. Sicher ein Zeichen für sehr schmalen oder überhaupt keinen direkten Kontakt auf unserem Boden mit römischen Volksangehörigen.
Herrschaft der Sachsen
Als die Sachsen im achten Jahrhundert aus der Elbe- und Nordseeregion kommend auch das Balver Land unter ihre Herrschaft brachten, werden sie von den beschriebenen Beweggründen geleitet worden sein. Der Tod eines Menschen, das Einzelschicksal zählte ihnen wenig, darüber rangierten der Stamm und die Sippe, eine Gemeinschaft, die sich wehren musste gegen Eindringlinge von außen und die den vermeintlichen Verfall von innen mit drastischen – wir würden heute sagen – inhumanen Strafen belegte. Der Zweikampf zwischen rivalisierenden Streitern gehörte zu den Normalitäten des Alltags. In der relativ kurzen Zeit ihres Einflusses in unserem Raum hinterließen sie eine Reihe gesellschaftlicher Normen, die für die nächsten Jahrhunderte bestimmend sein sollten. All diese Heerzüge erfolgten über ein uraltes Wegesystem, über das schon die Jäger und Sammler der Vorzeit das Land durchzogen. Dazu gehörte die alte Straße von Köln in Richtung Eresburg [bei Obermarsberg], die unser Gebiet im Raum von Wocklum und Beckum tangierte. Flurbezeichnungen wie »Herweg« in Balve oder »Heeresstraße« im unteren Hönnetalbereich zeugen davon, dass die Straßen nicht nur den friedlichen Handel und Kulturaustausch dienten, sondern auch bewaffnete Scharen sahen, die Leid und Elend unter das Volk brachten.
Franken und Karolinger
Etwa um 800 mussten auch die Sachsen der fränkischen Kriegsmacht weichen, die auf dem Marsch zur Hohensyburg die alte Burganlage in Wocklum als Aufmarschburg wieder herrichtete.
Karl der Große und seine Krieger zeichneten sich nicht nur durch ihren christlichen Missionsauftrag aus, sondern vor allem durch ihre Grausamkeit. Gott auf dem Schild sollte ihnen Siege, Einfluss und größere Machträume bringen. Der verfassungsmäßige Aufbau des fränkischen Großreiches barg aber schon neue Gefahren in sich. Durch das fränkische Lehenswesen kam es zur Aufsplitterung der ehemals mächtigen Besitzungen. Geistliche und weltliche Mächte rangen in immer kleiner werdenden Territorien um Vormachtstellungen. In unserem Raum waren es vor allem die einem alten westfälischen Geschlecht entstammenden Grafen von Arnsberg, die mit ihnen teilweise verwandten Grafen von der Mark und die Erzbischöfe in Köln. Politischen Zündstoff erhielt diese Dreierkonstellation 1180 durch die Zerschlagung des sächsischen Herzogtums Heinrich des Löwen und der Verleihung der Würde eines Herzogs von Westfalen an die geistlichen Herrscher in Köln. Letztere besaßen durch eine Reihe von Besitzungen nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch politischen Einfluss im Bereich der beiden Grafschaften Arnsberg und Mark.
Zerstörung der Burg Arnsberg
Bereits vor diesem Datum befand sich Friedrich der Streitbare (1092-1124) in Zwistigkeiten mit Köln. Der Arnsberger Graf bekämpfte den geistlichen Herrn mit dem Vorwurf, ein schismatischer, vom Kaiser unkanonisch ernannter Bischof zu sein. In der Folge zog der Erzbischof gegen Arnsberg, plünderte die Grafschaft aus und zerstörte die Burg in der späteren kölnischen Residenzstadt. Der Ritter Albertus von Balve und seine Söhne Pligrinius und Hermannus befanden sich des Öfteren im Gefolge des Streitbaren. In der Nachfolgezeit zog der Arnsberger gegen Münster, legte sich gar mit dem Kaiser an und bescherte unserem Land durch seine Gier unruhige Zeiten. Aus der Zeit dieser Auseinandersetzungen stammt wahrscheinlich die Wallanlage längs der Straße im Grübecktal, mit der dieser Engpass abgeriegelt werden sollte. Ebenso die Landwehr-Wälle auf den Kriegerbrand bei Garbeck im Balver Wald könnten die Handschrift Friedrichs tragen. Er befestigte den Haupthof Gevern bei Küntrop gegen nahe märkische Einflüsse und geriet in den Verdacht, an dem Paderborner Kirchenraub beteiligt zu sein.
Die verstreute Lage verschiedener Einflussbereiche, etwa märkischer Ansprüche auf die Vogtei in Blintrop, auf ein Drittel des Balver Markenwaldes, die Auseinandersetzung der Märker und Arnsberger um den Haupthof in Gevern konnte sich zwangsläufig nur in Fehden lösen. Dazu kamen kölnische Ansprüche, die durch ihre Hoheit über das nahe Menden mit einem Fuß in unserem Raum standen.
Heinrich der I. von Arnsberg, der seinen Bruder im Kerker verhungern ließ, gab durch seine Tat den Kölnern nur die Rechtfertigung, an der Spitze der Rächer aufzutreten und die Arnsberger Hoheit zu schwächen.
Fall der Rodenburg und des Burghauses Binolen
Mit dem Tag auf der Heide bei Worringen im Jahre 1288 geriet die Kölner Hegemonialpolitik ins Stoppen. Der Erzbischof verlor die entscheidende Auseinandersetzung und musste in der Folgezeit harte Schläge durch die märkischen Herren hinnehmen. 1301 fiel nicht nur die kölnische Besitzung Rodenburg in Menden, sondern in diesem Zug vermutlich auch das befestigte Burghaus in Binolen, deren Besitzer in kölnischen und arnsbergischen Ministerialendiensten standen. Durch Raubgrabungen im September 1977, die schließlich doch noch wissenschaftlich verwertet werden konnten, kamen auf dem Plateau oberhalb der Reckenhöhle eine Anzahl von eisernen Gegenständen zu Vorschein. Sicher ist auch, dass durch die unrechtmäßig geführten Grabungen zum Teil in den Fels gehauene Grundriss-Rechtecke zutage traten. Über dem Sockelmauerwerk sind die Häuser in Fachwerk ausgeführt gewesen, wie einige Bröckchen Staklehm mit Gertenabdrücken beweisen. Etliche Holzkohlebröckchen im Fundzusammenhang mit dem brandgehärteten bzw. geröteten Staklehm deuten auf Brand. Damit wird die Hypothese bestätigt, dass das Burghaus Binolen infolge der märkisch-kölnischen Auseinandersetzungen dem Feuer zum Opfer fiel. Unter den einzelnen Funden befanden sich vier Armbrustbolzen, vierkantig geschmiedet und am unteren Ende mit einer Tülle ausgestattet. Überreste des Überfalls auf die Burg Binolen?
Zerstörung der Burg Gevern und der Stadt Menden, Grenze zur Mark
Besonders im Flussgebiet der Hönne konzentrierten sich die Auseinandersetzungen der drei Parteien Köln, Arnsberg und Mark. Obwohl die Arnsberger Grafen im Balver Raum ihren Einfluss durch wirtschaftliche Erwerbungen zu stärken wussten, kam es dennoch nicht zur vollen Ausbildung der Landeshoheit. Im Quellgebiet der Hönne befestigten die Märker Neuenrade und zerstörten die Burg Gevern. Im unteren Bereich überfielen sie ein 1250, 1263, 1288 und 1344 die Stadt Menden und zerstörten sie jedes Mal völlig. Der Balver Raum wird von den Truppenbewegungen wohl immer berührt worden sein. Mit dem Bau der Burg Klusenstein befestigten die Märker die Grenze so, dass sie in diesem Gebiet als unangreifbar anzusehen waren. Eine gewisse Ruhe trat im Krisengebiet ein, als 1368 der in die Enge getriebene Arnsberger Graf Gottfried IV durch einen Scheinverkauf sein Territorium an Köln vermachte, um den Märker leer ausgehen zu lassen.
Einflussbereich des Kölner Krummstabes – Gilden und Schützen
Politisch hatten sich nun auf der einen Seite geistliche Macht und auf der anderen Seite eine mächtige weltliche Macht angesiedelt. Unsere Gegend lag im Einflussbereich des Kölner Krummstabes, der seine Verwaltungsgeschäfte durch einen Amtsdrosten für den Amtsdrostenbezirk Balve wahrnehmen ließ.
Für die Bevölkerung trat dennoch nicht die sicher sehnlichst gewünschte Ruhe ein. Grenzauseinandersetzungen, vor allen Dingen um Markengerechtigkeiten, gehörten von nun an zu ständig sich wiederholenden Ärgernissen. Im Verlauf der aufgezählten Kriege blieben die Einwohner des Balver Raumes nicht untätig, sie wollten nicht tatenlos zusehen, wie ihre Dörfer, Freiheiten und Städte zerstört, ihre Häuser angezündet, ihr Vieh entführt und ihre Angehörigen getötet wurden. Sie bildeten Selbstschutzorganisationen, die Vorläufer der heimischen Schützenvereine. Sie bildeten sich aus sogenannten »Nachbarschaften« im 6. und 7. Jahrhundert, die nicht nur gemeinsam ihren Markenwald bewirtschafteten oder sich zu gemeinsamer Götterverehrung trafen, sondern auch Kampfgemeinschaft waren. Obwohl die Franken gegen diese »Nachbarschaften« oder »Gilden«, die sich einmal im Jahr trafen, um das Gildebier zu trinken, vorgingen, gelang es ihnen allerdings niemals, die alten Gemeinschaften auszumerzen. Sie lebten fort auch nach der fränkischen Neuordnung des Heerwesens, als nur noch die Begüterten, die Ritter, zu Heerbanndiensten herangezogen wurden, in den Volksaufgeboten zur Verfolgung von Verbrechern oder zur Abwehr kriegerischer Überfälle auf ihre Siedlungen. Der »Glockenschlag« der Kirche rief sie zu den Waffen. Das Recht des »Glockenschlages« übten der Gograf oder der Amtsdroste aus. Im Balver Raum waren es die Amtsdrosten, die ihre Hintersassen aufboten, wenn zum Beispiel die Märker widerrechtlich und mit Waffengewalt in die Grenzgebiete eindrangen und Holz und Vieh raubten, die Hirten erschlugen oder andere Übergriffe vornahmen.
Stetige Rangeleien an der Grenze: Stadtrechte für Balve, Freiheit für Affeln
Dafür gibt es eine ganze Reihe urkundlicher Schilderungen. Sie zeigen uns, dass nach den großen politischen Auseinandersetzungen, die zur Herausbildung der beiden Machtpole Kurköln und Mark führten, die Leute des Balver Grenzlandes durch stetige Rangeleien an eben dieser Grenze immer wieder in Atem gehalten wurden. Balver erhielt aus diesem Grunde 1430 Stadtrechte verliehen und damit das Recht, die Stadt als Grenzstützpunkt zu befestigen, und Affeln wurde am 28. April 1492 Freiheit mit der Begründung: »weil es am Ende unseres Stiftes, vielmehr Schwerheit, Widerwärtigkeit und Last von den anstoßenden Ländern zu ertragen hatte wie andere Orte mitten in dem Stift.« Tatsächlich berichten die Affelner Kirchenchroniken von blutigen Zusammenstößen mit den Bewohnern der Stadt Plettenberg und des Amtes Schwarzenberg. Der Balver Droste ließ die Männer des gesamten Amtsbezirkes zu den Waffen rufen, wenn es galt, die Märker in ihre Schranken zu weisen oder Überfälle zu rächen. Beide Nachbarn verursachten immer wieder solcher Art Konflikte, die den verstreut im Grenzgebiet liegenden Besitzungen und althergebrachten Rechten zuzuschreiben waren. So ragte die Herscheider Mark weit in das kölnische Gebiet hinein, und die märkischen Machthaber versuchten natürlich, dieses Grenzland unter ihre Hoheit zu bekommen. Besonders Affeln erlitt aus den genannten Gründen immer wieder Leid und Kriegszustand. So wird 1547 das gesamte Amt Balve aufgeboten – selbst die dort lebenden märkischen Untertanen – um in das Amt Schwarzenberg einzufallen, weil sich angeblich die Märkischen grobe Grenzverletzungen haben zu Schulden kommen lassen. Die Rache der Märker ließ nicht lange auf sich warten. Am Tage der Heiligen Drei Könige rückten die von Plettenberg und dem dazugehörigen Amt in der Freiheit ein. Die Chronik berichtet: es wurden »Häuser und Thüren, Kisten und Kasten uffgeschlagen, die armen Leute übel tracktieret, etliche bis in den Tod verwundet, geschlagen, gefangen und mit sich hinweg gefuiert und genötiget, Bürgen und Glauben zu setzen. Auch Geld, Kleider, Hueßgeräth, Speck, Fleisch und was fürhanden gewesen, und den armen Leuten also über 500 Gulden Schadens zugefügt worden sei.” Auch die Märker beklagten ein Opfer: Hermann Berenberg war »jämmerlich erschossen und umgebracht« worden.
Der Streit zwischen den Nachbarn schwelte weiter. Ein Jahr nach der blutigen Fehde durchquerten die beiden Plettenberger Bürger Johann von Unna und Jakob Malthan den Ort Affeln. Man überfiel sie kurzerhand, »misshandelte und verstümmelte« sie. Erst ein Vergleich der Märker und Kurkölner in den endgültigen Grenzverlauf sollte derartige Zwischenfälle verhindern. Die kölnischen Untertanen erkannten die neue Grenze aber nicht an, welche sie auf das Schwerste schädige, und die Grenzzwistigkeiten nahmen ihren weiteren Verlauf.
1587 behauptet der Balver Amtsdroste von Hatzfeld, die Plettenberger seien tätlich in sein Land eingefallen und hätten unten am Lenneberge, weit von der Grenze weg “nechst Affeln” einen überaus “langen und deipen Graben oder Wall widerrechtlich und unpillich angelegt“. Hatzfeld lässt die Landwehr – um eine solche handelt es sich wohl – niederreißen, worauf sich die Märker mit folgender Einlassung beschweren:
“Die Amtsuntertanen von Balve haben unter ihrem Drosten Hatzfeld die von uns aufgeworfenen Landwehren niedergerissen, die wir in diesen hochbeschwerlichen Kriegsläuften zu notwendiger Defension des Vaterlandes angelegt hatten. Die Kurkölner sind mit etlichen hundert Mannen mit Gewalt und Tat in unser Land eingedrungen und haben dort einen über 600 Schritte langen Graben gezogen, damit sie vor dem spanischen Überfall sicher seien.” Ein Sprichwort macht in diesen Jahren die Runde: “Die Schwarzenberger haben den Satan im Leib, die Plettenberger singen das gleiche Lied. Ihr Richter singt vor, und die anderen singen mit.”
Martin Luther und die Religionsspaltung
Die lokalen Streitigkeiten brachten für Land und Leute Sorgen genug, dennoch blieb Balve, obwohl von den Zentren der Welt weit entfernt, auch von den großen politischen Ereignissen nicht verschont. Als Martin Luther 1517 seine 95 Thesen an die Schlosskirche von Wittenberg nagelt, nimmt nicht nur die Religionsspaltung ihren Lauf, sondern soziale Aufstände sind im Gefolge dieses Vorgangs zu finden. Bauern lehnen sich gegen ihre Grundherren auf, die Bauernkriege sind die Folge davon. 1529 stehen die Türken vor Wien, für die Verteidigung des Heiligen Römischen Reiches muss auch der Kölner Landesherr seinen Beitrag leisten, dessen Kosten er durch die Türkensteuer von den schon arg bedrängten Landbewohnern wieder hereinholt.
Truchseß zu Waldburg — Balve bleibt katholisch
Da die Unterdrückung der Bauern hierzulande keine gravierenden Ausmaße annahm, zumindest im Vergleich zu anderen Landschaften Deutschlands, dringen die sozialen Spannungen nicht bis in das Balver Land. Von der Reformation spüren die Leute des hiesigen Raumes dennoch etwas, und zwar ausgerechnet durch ihren Landesfürsten Gebhard von Truchseß zu Waldburg. Die Lehre Luthers fand unter den weltlichen Dynastien Deutschlands ihre Anhänger. Während große Territorien, besonders im Norden, der neuen christlichen Lehre frönten, blieb das Balver Land katholisch. Durch harte Besteuerung, hervorgerufen durch außenpolitische Schwierigkeiten mit den Türken, schon hart getroffen, begann nun für Balve und seine Umgebung eine schreckliche Zeit.
Der Mann, der dafür verantwortlich war, wird am 5. Dezember 1577 im Alter von 30 Jahren mit knapper Stimmenmehrheit zum Erzbischof gewählt. Gebhard wendet sich bald weltlichen Freuden zu und beginnt ein Verhältnis mit der Gräfin Agnes von Mansfeld, einer evangelisch weltlichen Stiftsdame aus Gerresheim bei Düsseldorf. Die Brüder der Dame sind mit dem außerehelichen Verhältnis nicht einverstanden und setzen den Kölner Kurfürsten unter Druck, er solle die verletzte Ehre ihrer Schwester wiederherstellen und Agnes heiraten. Bei dieser Forderung spielten auch politische Überlegungen der Brüder eine Rolle. Truchseß sagt dem katholischen Glauben ab, tritt aber vorerst noch als Katholik auf, da er Angst hat, sein Herzogtum zu verlieren. Am 29.12.1582 bekennt sich der Landesherr zum Protestantismus und zieht sich die Feindschaft des Kölner Domkapitels zu. Am 26. Januar des folgenden Jahres erlässt er in Bonn das Edikt der Glaubensfreiheit, und am 2. Februar lässt er sich durch den Superintendenten Pantaleon mit Agnes von Mansfeld trauen.
Während das Domkapitel offen gegen Truchseß opponiert, verhalten sich die Westfälischen Landstände vorerst neutral. Landdroste zu dieser Zeit ist Graf Eberhard von Solms, zu den westfälischen Räten gehört der Balver Amtsdroste Hermann von Hatzfeld auf Wocklum.
Truchsessche Wirren
Für Gebhard Truchseß wird der Boden in Köln allmählich zu heiß, spanische Truppen rücken dem Domkapitel zu Hilfe. Truchseß setzt sich in sein westfälisches Herzogtum ab. Er bereist die westfälischen Städte, verkündet überall die Religionsfreiheit und ersetzt die katholischen Priester durch protestantische Prediger. Siebzehn westfälische Städte erklären allerdings, “sie wollten bei der katholischen Religion ausharren und sich vor aller Neuerung und Abänderung hüten“. Zu diesen Städten gehört auch Balve.
Kaiser und Domkapitel sinnen darauf, Truchseß aus Westfalen zu vertreiben und ihn abzusetzen. Der frühere Erzbischof Salentin von Isenburg wird als kommissarischer Herrscher des Kurfürstentums eingesetzt und soll alle Städte und Untertanen von dem Eid auf den Truchseß entbinden. Die politische Seite, Landdrost und Räte, treffen sich derweil in Menden und versuchen, den ausgesprochenen Streit, der nichts Gutes verheißen will, in Frieden beizulegen. Die Lage spitzt sich zu, als das Domkapitel am 2. Juni 1583 auf Befehl des Papstes Ernst von Bayern zum neuen Erzbischof wählt. Truchseß beginnt nun mit Waffengewalt in Westfalen die Reformation durchzusetzen. Dabei werden Kirchen geplündert, die Einsassen der Dörfer vor allem drangsaliert. Wie grausam er dabei verfährt, stimmt selbst seine Gesinnungsgenossen traurig. Der Lutherische Prädikant Ullrich Meller klagt: »wie Truchseß mit seinem wilden Kriegsvolk in Kirchen und Klöstern haust und die armen Leute bedrückt, ist mehr als türkisch, und müssen sich alle Evangelischen darob im Herzen schämen.«
Im Oktober 1583 entscheiden sich die deutschen Fürsten gegen Truchseß. Ernst von Bayern als neuer Landesherr rückt mit seinen Verbündeten aus Bayern, dem Kölner Erzstift und Spanien in Westfalen ein und erobert Stadt für Stadt zurück. Truchseß muss fliehen und begibt sich nach Holland. Am 31. März 1584 wird er bei Burg völlig geschlagen. 1601 stirbt er in Straßburg und wird im dortigen Dom bestattet.
Das Herzogtum Westfalen kommt nicht zur Ruhe. 1585 eröffnen zwei Parteigänger des Truchseß, der Graf von Neuenahr und Oberst Martin Schenk Nideggen, unterstützt von den niederländischen Generalstaaten (die »Statischen«), einen Vernichtungskrieg gegen das Kölner Erzstift und das Herzogtum Westfalen. Mit Feuer und Schwert wüten die holländischen Freibeuter auch im Balver Raum.
Was bekamen nun unsere Vorfahren von den truchsessischen Auseinandersetzungen und den Kriegszügen der Statischen mit? Da Balve zu den 17 Städten gehörte, die sich dem Truchseß und dem Protestantismus widersetzten, richtete sich der Zorn des abgesetzten Erzbischofs besonders gegen unsere Gegend. Im Jahre 1583 schickt der den Kriegsmann Franz Else nach Ölinghausen, seinen Parteigänger Engelbert Nie nach Affeln und marschiert selbst noch Wocklum, um dort einem seiner ärgsten Widersacher, dem kurfürstlichen Rat Hatzfeld, eine Lektion zu erteilen. Auf seinen Märschen machen die Söldner vor der Landbevölkerung nicht halt, viele Familien retten sich ins Ausland, Affelner verstecken sich mit ihrem Vieh in den Lennebergen.
Im benachbarten Kloster Ölinghausen ließ Truchseß schon 1582 den Nonnen das Tragen des weißen Ordensgewandes verbieten. Statt des Ordensbreviers und der lateinischen Psalmen sollten sie Luthers Bibel und seine Schriften lesen. Truchsess besetzte den Ölinghauser Probst ab und an seine Stelle den protestantischen Ritter Franz von Elsen sowie den Prediger Kaspar Mathei, Georg Dücker und Johann Antoni. Sie unterdrückten die kirchlichen Zeremonien, verboten die Anrufung der Heiligen und veranlassten, dass die Kerzen, Wachs, Weihwasser, Salz und das ewige Licht aus der Klosterkirche entfernt wurden. Da die Nonnen sich auch durch diese Maßnahmen nicht überzeugen ließen, schickte Truchseß Soldaten. Sie misshandelten die Klosterfrauen, erpressten Geld und raubten das Vieh. Das Kloster glich einem wüsten Gelände. Franz von Elsen und seine Prädikanten führten einen glänzenden Tisch, während die Nonnen hungerten. 1584 ist seine Zeit zu Ende, er wird von Soldaten des neuen Kurfürsten Ernst von Bayern gefangen genommen und nach Arnsberg abgeführt.
Plünderung von Schloss Wocklum
Am 17. August 1583 trifft es auch den Raum Balve: Truchseß selbst erscheint mit seinen Soldaten in Wocklum und gibt das Schloss zur Plünderung frei. Hermann von Hatzfeld floh vor den heranrückenden Truppen nach Münster. Die Soldaten brennen das Schloss bis auf die Grundmauern nieder. Die Bauern der umliegenden Balver Ortschaften sind gezwungen, das Exempel mit anzusehen. Die truchsessischen Soldaten drängen ihnen das Versprechen ab, jeden Geistlichen totzuschlagen, der noch einen katholischen Gottesdienst abhalten wollte. Fast alle Kapellen im Amtsdrostenbereich werden entweiht und profaniert: in Altenaffeln, Blintrop, Küntrop, Langenholthausen, Mellen, Beckum, Eisborn und die Klause. Garbeck bleibt verschont, ebenso die Kirche zu Balve. Gründe dafür sind in den einschlägigen Quellen nicht zu erfahren. Bekannt ist lediglich, dass der Balver Pfarrer Johann Köster und sein Vikar, Clemens Duvenheuer, in den Balver Wald geflohen und sich in einer kleinen Kapelle nahe der Landesgrenze versteckt haben sollen.
Ende Truchseß, Freibeuterei, Hatzfeld
Obwohl Truchseß im Mai 1584 aufgeben muss, droht dem Balver Land durch herumziehende holländische Freibeuter neue Gefahr. Der westfälische Landdroste müht sich, eine Streitmacht aufzubauen, die aus 300 Reitern und 900 Fußsoldaten bestehen soll. Hermann von Hatzfeld ist dabei behilflich und will vor allem die finanzielle Grundlage beschaffen. Er bietet zum Beispiel den Johann von Melschede. Die Stadt Balve kann nichts geben, da sie 1584 völlig abbrennt und die Leute, wie Hatzfeld berichtet, bettelarm sind.
Angesichts der großen Not und der drohenden Gefahr schickt der neue Kurfürst spanische Reitertruppen nach Westfalen, von denen Teile seit dem Jahre 1586 im Amt Balve lagern. Hatzfeld weiß zu berichten, dass im Mai und Juni fünfmal solche Truppen in Wocklum »zu Gast« waren und dort über vier Fuder Wein vertrunken haben.
So, wie es den Insassen des Klosters Ölinghausen mit den Statischen erging, wird es wohl auch den Balver Leuten widerfahren sein. Zwischen 1586 und 1600 erscheinen die Freibeuter wiederholt im Kloster, rauben und vergewaltigen, brennen und zerstören. Sie zogen sich die weißen Nonnenhabite über und ritten damit durch die Gegend. Von der Not im Land kündet auch das Tagebuch des Kaspar Fürstenberg.
Am 10. Juni notiert er: »Zeitung kumbt [Nachricht kommt], dass gestern die Freibeuter einen reichen Schulten in dem Ampt Menden wegkgeführdt.«
Am 18. November: Fürstenberg erhält ein Schreiben über den »einfall ins Ampt Menden, sein von dem feind 3000 Schweine von der Mast fortgenommen«.
Am 20. November: »Zeitung kumbt, daß die Schwestern zu olinghausen des feindts halben in großer gefar sein sollen, bin gans bekümmert drum, sie schicken mir 80 schweine«.
Am 13. Februar 1595: »Erfare, daß sie (die Statischen) in Oelinghausen mit 180 pferden gefallen, das Closter geplündert, und meine Schwestern mit genauer not biß herdringen ihnen entkh0mmen, aber sein in der nacht zur Arnßperg ankhommen«.
Am 18. November: »Meine Schwestern von Oelinghausen khommen frue alhie zu Bilstein ahn, hatten die gantze nacht umher ziehen müßen der Freubeuter wegen, welche zu 600 starck fürhanden gewesen. Ich bestelle die wacht alhie ufm hauß und schreib uf Olpe, daselbst ein gleiches zu thuen«.
Im gleichen Jahr, am 7. März 1595 zu Arnsberg, tagt der Landtag, um die Höhe des “Brandschatzes” festzusetzen, Kriegssteuern also, gedacht, um den Aufwand mit den Freibeutern zu bezahlen. 26000 Reichstaler werden veranschlagt. Die Ritterschaft lässt sich auf einen Anteil von 3000 Talern ein »mit fürbehalt ihrer freiheit«, später willigen sie auf 5500 Taler ein. Fürstenberg notiert:
»Der geistlichkeit werden 1500 und dem platten Lande 12000 ufgelacht, Und also wirdt diße arme landschaft, daß den Statischen und den Schmachtgraven der Halß gefüllet werde, unschuldig geplagt und außgesogen«.
Ein ausgezeichnetes Beispiel, wie es die Landstände fertig brachten, den Bauern den Hauptteil des Geldes, nämlich 12000 Taler, aufzubürden.
Zweite Menscheitsgeißel: Die Pest
Die Soldaten brachten neben ihrem fürchterlichen Kriegsgerät eine viel schlimmere Waffe mit ins Land: die Pest! 1588 schreibt der Amtsdroste Hermann von Hatzfeld:
»es hat den ganzen Sommer über geregnet. Die Ernte ist verfault. Dazu grassiert die Pest im Lande. Es sterben sehr viel Leute. Kann deshalb den märkischen Leuten im Amt Balve nicht zumuten, dass sie übermäßige Tagwerke für den Amtsdrosten in Neuenrade leisten, und nehme sie deshalb vor dem märkischen Drosten in Schutz.«
Ohnmächtig verfolgten die Balver Leute, was an großem Leid über sie kam, sie fühlten sich in ihrem Glauben verraten, die »guten Sitten« kamen abhanden und verrohten. Sie waren der Pest gnadenlos ausgeliefert, und ihr einziger Schutz vor der grausamen Krankheit bestand darin, dass sie die Kranken aus den Dörfern und der Stadt internierten. In Volkringhausen heißt heute noch eine Flur unweit des Friedhofes »Op der Pessenheide«, ein Ort also, zu dem man die Pestkranken brachte, damit sich die Infektion nicht noch weiter ausbreitete. Hunger, ausgelöst durch Missernten, die wiederum ihren Grund in der durch die Soldateneinfälle unregelmäßigen Feldbestellung hatten, leisteten der Krankheit unbarmherzig Vorschub.
Alte und neue Grenzzwistigkeiten
Während dieser Zeit nahmen die kölnischen und märkischen Amtsdrosten in unserem Gebiet die alten Grenzzwistigkeiten wieder auf. 1596 nehmen märkische Untertanen dem Vogel zu Garbeck 4 Pferde und dem Frohnen dortselbst 2 Pferde weg. Im gleichen Jahr sucht der Droste von Neuenrade den Sassen-Hof zu Blintrop auf, lässt die verschlossenen Türen aufschlagen und die darin wohnenden kölnischen Untertanen verjagen. Auf dem Landtag zu Arnsberg sollen die Vorkommnisse besprochen werden, er kann aber nicht tagen, weil 1597 dort die Pest wieder auftritt.
Den eindrucksvollsten Bericht einer Schikane des Neuenrader Drosten erhalten wir vom Benkamp:
»die sämtlichen Erben Gevener Mark in der Zahl ad etwa 50 Mann haben den 20. dieses Monats Novembris eine unverantwortliche mit außsehende Gewaltthat sowohl an dem Benkämper und dessen Gesinde in seiner des Benkempers eigener Behausung und Hof verübet, als auch 2 Pferde gewaltthätig mit hinweg geschleppet, nachdem vorhero vermelter Benkempers Behausung mit gewalt und gewapneter Hand bestürmt undt die Thür erbrochen, dem Benkämper unter anführung undt agreßion des Clemens Cormann 3 blühtige Wunden an den Kopf den linkeren Arm ganzt lahm undt einen Finger ahn der linkeren Handt wundt geschlagen, das Kuhmädchen erbärmlich durch den Koth geschlepet, auch noch eine andere undt zwar schwangere Magd ehlendig abgeprügelt, daß darob krank liege undt zu besorgen seye, daß die frucht nothgelitten, umgekommen, oder doch annoch umbs Leben kommen werde, unter welchen … nuhn diese allergröbste Thätlichkeiten vorgenommen seyn dürften, auch wenn es eine Pignoration sein sollte, so haben doch nicht allein die märkischen Erben die Hoheit dieser Churcöllnischen Landen violiert [verletzt], sondern auch wan nicht … dann aber alsolchen grausamen Thätlichkeiten so lediglich nicht kann nachgesehen werden, die Cöllnischen Eingesessene, alß der Zahn undt Severin zu Kündrop sambt ihren Knechten, und zwarn des Zahns Knecht mit einem Säbel alsolchen Thätlichkeiten mit beigepflichtet, undt die Pferde welche doch vor allem müssen restituiert werden, ins Märkische verbracht haben.«
Dritte Menschheitsgeißel: Der Hexenwahn
Die einfachen Bauern des Balver Landes suchten nach Erklärungen für all das Leid, das ihnen widerfuhr. Sie kannte kaum den Begriff Frieden, fahndeten dafür aber in ihrem Unterbewusstsein nach einem Schuldigen für die verfahrenen Kriegsjahre. Die Obrigkeit präsentierte ihnen einen solchen und ließ sie ihre ganze Wut in dem Hexenglauben austoben. Zu Krieg und Krankheit gesellte sich im ausgehenden 16. Jahrhundert eine dritte Menschheitsgeißel, der Hexenwahn. Nur wenige Aufzeichnungen sind uns für die Stadt Balve überliefert, vermutlich kamen die Prozessakten während einer der zahlreichen Stadtbrände im Feuer um. Daher nehmen wir unsere Informationen aus dem Pfarrarchiv Enkhausen, Affeln und dem von Hatzfeld´schen Archiv in Trachenberg.
Erste Hexenverfolgungen um 1592
In den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts hören wir erstmalig von Hexenverfolgungen. In ihnen finden wir das alttestamentliche Bild bestätigt, in dem das Volk seine Sünden einem Schafsbock auflud und den in die Wüste jagte. Zum »Sündenbock« stempelten die durch Krieg und Krankheit drangsalierten Menschen des Balver Landes Hunderte von Personen, die unter der Folter wirre Geständnisse ablegten und schließlich auf den Scheiterhaufen bei lebendigem Leibe verbrennen mussten. Zauberei war bereits zur Zeit des Sachsenspiegels als Verbrechen. 1484 befasst sich eine Bulle des Papstes Innozenz VII mit dem sogenannten »Hexenwahn«, den man in einigen Teilen »Ober-Deutschlands«, so auch im Bistum Köln, entdeckt zu haben glaubte. Zwei Dominikaner waren beauftragt, als Inquisitoren gegen die Teufelsbünde aufzutreten. 1486 geben sie die Schrift »der Hexenhammer« heraus, in der das ganze »ordentliche Verfahren« gegen die Hexen festgehalten ist.
Weltliche Gerichte übernehmen später die Verfolgung der Zauberei. Sie erhalten ihre gesetzliche Grundlage durch die »peinliche Halsgerichtsordnung« Kaiser Karls des Fünften. Damit gebot er im ganzen Reich, die Zauberei als Kriminalverbrechen zu verfolgen. Das Tagebuch des Landdrosten Caspar von Fürstenberg nennt für Westfalen erstmals unter dem Datum vom 7. November 1584 einen Vermerk über den Hexenglauben. Ein Jahr später allerdings folgt Eintragung auf Eintragung über »gefänglich eingezogene Zauberer und Zauberinnen«. Die gerichtlichen Verfolgungen trafen zum größten Teil die Ärmsten der Armen unter der Bevölkerung. Nur wenige Fälle sind bekannt, dass auch Leute höherer gesellschaftlicher Position eingezogen und hingerichtet wurden. Fürstenberg schreibt auch die Verfahrensweise in den Prozessen wieder: wir hören von Folterungen, Wasserproben und schließlich von der Hinrichtung durch Feuer. Die Zauberer werden gleich im halben Dutzend verbrannt. Am 19. Dezember 1585 notiert der Landdroste: »die anderen sechs werden zum Feuer verdammt und hingerichtet.«
Das kurfürstliche Gericht übernahm die Einziehung und Aburteilung der Zauberer, genaue Verfahrensweisen teilte der Erzbischof Ferdinand in einer Hexenordnung 1607 mit. Den Prozessvorsitz übernahmen vom Landdrosten eingesetzte Hexenjäger, Doktoren der Rechte, von denen in Menden der berüchtigte Osthaus wirkte und in Balve der nicht minder berüchtigte Jobst Hecker oder Jobst von Hocker.
Die erste Nachricht aus dem Balver Raum über die Verfolgung von Zauberern stammt von 1592. Aus »Mörigen bei Eisborn« wird die »Meiersche« als Hexe angeklagt, muss aber wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Aus der Anzahl der überlieferten Nachrichten können wir nicht auf die Anzahl der bereits stattgefundenen Prozesse schließen. Es werden mehr gewesen sein, als urkundlich belegt sind. Wir ersehen es aus der Tatsache, dass 1592 der Herrmann Volle aus Beckum durch »5 hingerichtete Hexen der verdammlichen Zauberei« angeklagt war. Er flieht vor seinen Richtern, wird aber wieder eingefangen und abermals beschuldigt, den »Leuten Schaden zugefügt« zu haben. Ein Jahr später wird die Schottlers Tochter aus Hövel in Balve auf dem Galgenberg hingerichtet. Der Kurfürst hatte aus besonderer Gnade erlassen, dass die »Hexen«, bevor sie verbrannt, von dem Scharfrichter mit dem Schwert vom Leben zum Tode gebracht würden. Also loderten nahe beim Galgen auf der Gerichtsstätte die Feuer.
Über die Vernehmungen und die Art der Beweisaufnahme sagt uns die nächste Notiz etwas: Am 24. September 1594 ziehen die Richter die Katharina Koenigs aus Affeln ein, sie wird »aufs Wasser geworffen und boven geschwommen«. Das »boven schwimmen« nahm man zum Beweis, dass der Teufel der armen Kreatur helfe und sie hindere, im Wasser unterzugehen. Die Königsche aus Affeln gesteht. Ihre hingerichtete Mutter habe sie die Zauberkraft gelehrt. Sie sei mit der Mutter auf einem schwarzen Bock zum Tanz geritten. Vor 14 Tagen, als sie das letzte Mal beim Tanze gewesen, habe sie dort gesehen: Greite, des Wollners Kracht Hausfrau, Greiteken, Hessen Tochter, und Katharina, Schohmachers Hausfrau (aus Küntrop). Die genannte Schohmachersche gesteht immerhin 10 Fälle von Viehschädigungen.
Aus den Mendener Hexenprozeßprotokollen ersieht man, dass sich die Geständnisse in ihren Schilderungen gleichen. Die Justiz wurde pervertiert, Geständnisse eingegeben, um in jedem Fall zu einem Urteil zu kommen. Recht und Wahrheit verloren an Bedeutung, die Richter jener Zeit glaubten Gott wohl zugefallen, je mehr Opfer sie dem Schwert überlieferten. Als die Meiersche von Möringen bei Eisborn ein zweites Mal in Balve gefangen gesetzt wird, redet auch sie nach, was eine unsinnige Zeit in die Gehirne der Menschen pflanzte. Hier ihr Geständnis:
»Auf dem Wege, als sie neben anderen zur Wasserprobe geführt werden sollte, bat sie umzukehren, sie wollte alles freiwillig bekennen. Vor sechs Jahren sei ein Kerl in ihr Haus gekommen, der habe sich angeboten, er wolle eine gute Kunst lehren, wenn sie zuvor Gott und den Heiligen abgesagt hätte. Der Kerl hätte etliche Male des Nachts zum Tanz auf die Herdringer Heide geführt. Ihrem Mann habe sie ein Schlafmittel gegeben, damit er nichts merke. Nachdem sie auf einem schwarzen Bock auf dem Tanzplatz angekommen seien, habe er ihr einen Buhlen gegeben und ihr ein Stück Gold in die Hand gedrückt. Das sei nachher Dreck geworden. Die Personen, die sie beim Tanze gesehen, seien schon alle hingerichtet mit Ausnahme der Schirpschen vom Hövel. Der Verführer habe ihr auch etwas in Papier gewickelt gegeben, womit sie anderen Leuten Schaden zufügen könne. Damit habe sie viel Schaden getan an dem Vieh, auch einmal eine Wiese unfruchtbar gemacht.«
Weitere Prozesswelle ab 1628
Für einige Jahre ruhte der Hexenwahn im Balver Land. Darüber begann 1618 ein Krieg, der 30 Jahre andauern sollte und auch unsere Gegend fast entvölkerte. 1628 lebt die Hexenverfolgung wieder auf, geschürt und juristisch abgedeckt durch die Hexenordnung des Kurfürsten Ernst von Bayern und den Nachtrag dazu von dessen Nachfolger Ferdinand von Bayern. Weil die Handhabung der Hexenordnung sehr schwierig sei, wollten Kurfürst und Landstände die Verhandlungen und Urteile nicht den kurfürstlichen Richtern und Schöffen überlassen. Sie ernannten am 2. Juli 1607 den Doktor der Rechte Christian Kleinsorg und den Licensiaten Jobst Hecker (Jobst von Hocker) zu Generalskommissarien der »Inquisitionis magicae«.
1628 wird in den Kirchen des Balver Raumes ein »ernstlicher kurfürstlicher« Befehl bekannt gemacht, der alle Eingesessenen des Amtes zur Denunziation verpflichtet:
»… Welche Leute beherbergen, die mit Zauberei berüchtigt, von Stund an sollen abschaffen, widrigenfalls, sofern dieselben angegriffen und gerichtet würden, und die Gerichtskosten aus derselben Verlassenschaft nicht zu bekommen, so sollen die Aufhälter für sie aus ihren Gütern bezahlen«.
Es war geltendes Recht, dass der Fiskus die Prozesskosten aus der Hinterlassenschaft der Verurteilten und hingerichteten bestritt, eine Praxis, die sich in jüngster deutscher Geschichte im Verlauf der Judenverfolgung wiederholte.
Von der Kanzel ging weiter der Befehl, dass die »Türme, Schlösser und Löcher in Balve« zu Gefängnissen hingerichtet werden sollten. Den Bauernrichtern auf den Dörfern gebot der Kurfürst, Holz für die Scheiterhaufen zu hauen.
Kurfürstlicher Kommissar aus Werl
Dann zog der kurfürstliche Kommissar aus Werl in Balve ein und begann sein grauenvolles, blutiges Geschäft. Jeder musste um sein Leben bangen; das Misstrauen wuchs, denn die unter Folter Gequälten nannten in ihrer Angst wahllos die Namen ihrer Nachbarn, Freunde und selbst Angehörigen. Gleich nach seiner Ankunft ließ der Kommissar elf Personen aus verschiedenen Orten des Amtes verhaften und »auf zweimal hinrichten«, wie es lapidar heißt. Am 13. September 1628 werden abermals zehn Menschen »teils mit Stricken, teils mit dem Schwerte getötet« und ihre Leichen verbrannt. Vorweg zog der Priester mit der grauenvollen Prozession hinauf zum Galgenberg, wo in der Nähe des Galgens die Hinrichtung und Verbrennung der Verurteilten stattfand. Dazu läutete das Armesünderglöckchen, das weiland die Äbtissin Ottilia von Fürstenberg aus dem Kloster Oelinghausen der Kirche zu Balve schenkte, als sie um Gnade für einige Verurteilte beim Amtsdrosten Hermann von Hatzfeld nachsuchte.
Ebenfalls im benachbarten Affeln wüteten die Scharfrichter. Während besonders die sozial Schwachen Opfer einer pervertierten Justiz wurden, traf es in der Freiheit Affeln auch den Bürgermeister und seine Frau, die schon während der ersten Prozesswelle 1596 auf den Scheiterhaufen kamen. Ein Sohn der Familie, der Priester Georg Brune, wurde ebenfalls der Zauberei verdächtigt und entzog sich der Verurteilung durch die Flucht. Im ganzen Umkreis wusste man, wen es getroffen hatte. Ein Hexenprozess in Menden am 14. März 1631 nennt die Affelner Familie Brune. Das Protokoll schildert noch einmal anschaulich, wie es während eines Verhörs zuging. Es heißt in der Urkunde, dass am 14. März 1631 der Gerdt Großmann, sieben Tage nach der Hinrichtung seiner Frau, verhaftet wird. Der inhaftierte wird mit zwei Zeugen konfrontiert, die aussagen, ihn auf Teufelstänzen gesehen zu haben. Als Gerdt Großmann nicht gestehen will, droht man ihm die »erste Tortur« an. Angesichts der Folter lässt er sich ein Geständnis einfallen: Der Brune zu Affeln habe ihn in der Zauberei vor 12 oder 13 Jahren unterwiesen. Als er dem Teufel zugesagt, sei derselbe sofort zu ihm gekommen in Gestalt eines großen hässlichen Frauenzimmers, “Lucifer genannt“. Er korrigiert mehrere Male seine Aussage, ein Zeichen dafür, was unvoreingenommene Richter von einem solchen Geständnis zu halten gehabt hätten. Diese Frau, die er schließlich als »schön« und mit »einer brennenden Krone auf dem Kopf« schildert, habe ihm einen »Goldgulden verehrt, der nachher zu Dreck« geworden sei. Die Frau habe ihm das »schwarze Kraut« geschenkt, damit er damit Schaden tun könne. Zunächst, so sagt er aus, habe er dem Brune in Affeln ein Pferd umgebracht, weil er (Großmann) bös gewesen sei darüber, dass ihm der Brune die Zauberei gelehrt habe. Er weiß noch fünf ähnliche Fälle zu berichten und gesteht sogar, sein eigenes Kind, »das sehr wunderlich gewesen«, unter dem Zwang des Teufels umgebracht zu haben. Der Teufel habe ihm schließlich von dem Herzen des Kindes gegeben, damit er damit »Böses tun könne«. Großmann denunziert schließlich 33 (!) Menschen, die er auf Teufelstänzen gesehen haben will. Der Teufel habe ihm in die Seite ein Teufelsmal gedrückt, eine Warze, wie es im Protokoll heißt.
Berichte aus Balve
Zurück nach Balve: Hier hatte inzwischen der Kommissar aus Werl einige Gehilfen verpflichtet, die vereidigt wurden, niemanden etwas über die Geschehnisse während der Verhöre zu berichten. Der Folterkeller des Inquisitors stand am Ende des heute sogenannten »Armesündergässchens«, durch das die Verurteilten hinauf zum Galgenberg geführt wurden. Der zeitige Pastor Hermann Laer (1621-1631) zeichnete die Geschehnisse jener Zeit auf. Als geistlicher Herr leistete er den Bedrängten nicht nur seelischen Beistand. Hin und wieder wollte ihn der Hexenrichter auch als Exorzisten dabei haben.
Die Questertsche aus Wetmarsen bekennt in Balve ohne Folter; sie wird am 15. September 1628 »mit umgedrehtem Halse« im Gefängnis aufgefunden. Vier Tage später enden zu Balve »sechs Zauberer« am Strick, am 5. Oktober werden elf »zauberische Personen« geköpft und deren zehn verbrannt, »die Bürgermeisterin bei einem Dornstrauch begraben.« Es wird in den Annalen eine wahre Prozesswelle beschrieben, die das ganze Jahr 1628 anhielt. Zauberer wurden »stehend und knien« geköpft, von »langen Peinigungen« ist die Rede. Auf menschliche Schicksale reagiert die wildgewordene Justiz nicht. Der Jörg Schulte aus Mellen, der Kutscher des Drosten, kommt zwölf Tage nach seiner Hochzeit unter das Schwert. Allein von 82 Opfern berichten die Urkunden 1628, dazu kommen die vielen nicht genannten, deren Schicksale uns unbekannt bleiben. In den Aufzeichnungen des Pastors Laer finden sich Abrechnungen über Mahlzeiten, die er anlässlich der Hexenprozesse mit Geistlichen der Nachbarschaft abhielt, die nach Balve kamen, um Angehörigen ihrer Pfarreien den nötigen Beistand zu leisten. Laer selbst war ständig in den Gefängnissen unterwegs, er versorgte den Blesin aus der Horst, den Fronen zu Garbeck, dem Hinrich Balken und den Bolker zu Garbeck, den Joan Snoers, die Margarete Massen, Annen Baten und Metteken Korten. Von in Balve 190 Hingerichteten macht sich der Pfarrer für 1629 und 1630 Notizen.
Dreißigjähriger Krieg
Während man sich im Balver Lande noch in den Hexenprozessen verzehrte, setzte in Europa zum Ende des 16. Jahrhunderts ein Gerangel zwischen den Staaten unterschiedlicher Konfession ein. Religiöse und damit verbundene machtpolitische Auseinandersetzungen – wobei oft der konfessionelle Unterschied zu Hilfe genommen wurde, um einen Krieg um Land, Geld und Einfluss vom Zaun zu brechen – führten zu einer der größten Katastrophen des späten Mittelalters. Was mit dem Fenstersturz zu Prag am 26. Mai 1618 begann, ging als »Dreißigjähriger Krieg« in die Geschichte ein. Da der Landesherr auch die Religion für seine Untertanen bestimmte, traten die Fürsten mit dem nötigen Gewissensernst auf die Schlachtplätze. Katholische Liga auf der einen und protestantische Union auf der anderen brachten ganz Europa durcheinander. Deutsche, Schweden, Dänen, Franzosen befehdeten einander, Leute wie Tilly und Wallenstein auf des Kaisers Seite und Christian der VI. und Gustav Adolf von Schweden auf der anderen Seite verwüsteten das Land. Der Krieg, der in Prag begann, endete in unmittelbarer Nachbarschaft des Herzogtums Westfalen, in Münster, mit dem »Westfälischen Frieden«.
Balve, dem streng katholischen Kurfürstentum zu Köln zugehörig, hatte seine erste Bewährungsprobe im Glaubensstreit bereits unter Truchseß bestanden. Nach großem Elend durch holländische Freibeuter und kurfürstliche Hexenjäger bekamen sie ab etwa 1620 auch die Folgen des 30-jährigen Krieges zu spüren.
Zum einen setzte der Kurfürst eine Kriegssteuer zur Unterstützung der Liga an, die auch von den Balver Amtseingesessenen zu zahlen war. Außerdem ließen sich die kriegführenden Parteien, ob katholisch oder evangelisch, von den ausgebluteten Bauern Verpflegung heranschaffen. 1622 mussten Bauern des Amtes Balve und Malter Hafer, Rinder und Kälber, Butter, Bier und Brot nach Arnsberg fahren. Im gleichen Jahr quartiert der Graf von Anhalt Truppenteile in Balve ein. Als er weiter zieht, müssen acht Bauern aus dem Amtsgebiet die Proviantwagen bis in die Niederlande fahren. 1634 lagern kaiserlich holsteinische Reiter in Balve, ein Jahr später versuchen hessische Soldaten vom Husenberg aus die Stadt in Brand zu schießen, »was aber der allmächtige Gott verhinderte«.
Aus dieser Zeit blieben besonders die Schweden den Menschen unserer Gegend im Gedächtnis. Wie diese Soldateska hauste, wissen wir aus einigen Erzählungen der Nachbarschaft. Sie scheuten sich nicht in ihrer durch den Krieg hervorgerufenen Verrohung, Kinder am Spieß über dem Feuer zu braten.
Soldatenhorden, Plünderungen, unvorstellbare Armut
Balve und auch die Freiheit Affeln bewaffneten ihre Schützen, die Tag und Nacht auf den Mauern ihren Dienst leisteten und so die Bürger zumindest vor anrückenden Truppen warnen konnten. Wir können uns ausmalen, welche Angst die Menschen überkam, wenn die bunten Horden von den weichesten Betten Gebrauch machten und die erzwungene Gastfreundschaft oft genug auch vor den Frauen und Kindern nicht halt machte. Eine überlieferte Geschichte aus Volkringhausen weiß von schwedischen Soldaten zu berichten, die in der Nähe des Klingenspring (Quelle im Felsen, an der sich die Dorfbewohner das Wasser holten) an der Pest starben. Die fürchterliche Krankheit kam im Gefolge der Soldaten. Nach 1630 kommen kaiserliche Truppen, aber auch Schweden und Hessen in unsere Gegend. Schon ein Jahr später meldet Affeln die ersten Pestfälle. In diesem Jahr werden Sundernsche Schützen mit Pulver für fünf Reichstaler versorgt, um die Kirche vor Plünderungen zu schützen. Nach kurzer Zeit der Ruhe rücken am Tag vor Palmsonntag im Jahre 1634 Lüneburgisch Kratzensteinsche Soldaten von Iserlohn kommend in der Freiheit Affeln ein. Sie plünderten erst einmal die Kirche, gruben selbst den Boden um und fanden dort so manche Kostbarkeit, die gläubige Bürger dort versteckt hatten. Als die Soldaten merkten, dass in Affeln die Pest hauste, verließen sie schnell den Ort.
Im Armenhaus nahm die Krankheit ihren Beginn, selbst der Pfarrer erlag ihr in diesem Jahr. Sein Nachfolger weigerte sich schließlich, auf die Dörfer zu gehen, weil die Wölfe des Nachts bis in die Ortschaften vordrangen. Selbst der Gottesdienst konnte wegen der vielen Todesfälle und der Angst vor der Ansteckungsgefahr nicht mehr abgehalten werden. Die Affelner verlegten ihn ins Freie, in das Loh, ein Wäldchen vor dem Ort. Rund um eine kleine Kapelle traf man sich zum gemeinsamen Gebet. Die Armut der Bevölkerung nahm unvorstellbare Formen an: auf den nur teilweise bestellten Feldern breitete sich die Öde aus, so mancher Hof wurde bereits nicht mehr bewirtschaftet, seine Insassen waren tot oder ausgewandert. Nach dem 30-jährigen Krieg standen in Affeln keine 30 Häuser mehr. Lange danach zogen Horden von Soldaten, die ja nichts anderes als das Kriegshandwerk erlernt hatten, durch die Gegend. Fielen sie den Bauern in die Hände, war es um sie geschehen. Interessant ist jedoch, dass so mancher Soldat in dem Balver Land hängen blieb und hier sesshaft wurde. Die Taufregister geben darüber Auskunft.
In Balve war es nicht viel anders als in Affeln. In den ersten Jahren nach dem Westfälischen Frieden taufte der Priester in der gesamten Pfarrei etwa 30 Kinder, während es vor dem 30-jährigen Krieg zwischen 100 und 120 waren. Fast die Hälfte der Wohnhäuser lagen zerstört, in Balve gab es noch 43 Feuerstellen. Ein Fazit jener Zeit zieht der Balver Amtsdroste im Jahre 1650:
»Das Amt Balve kann in diesem Jahre keine Mannschaften für die allgemeinen Wolfstreibjagden im Hellefelder und Hirschberger und Arnsberger Gebiet aufbringen. Wir bitten gnädigst zur Kenntnis zu nehmen, dass – wie auch landkundig ist – das Amt Balve durch die Pest, die Kriegsereignisse und durch die Hexenprozesse das Mannsvolk allerorts stärkstens zusammengeschrumpft ist. Die wenigen noch vorhandenen Männer sind zu Hause und in den Dörfern und auf den Höfen der Sicherheit halber unentbehrlich, weil überall hier an der märkischen Grenze zahllose wilde Soldatenhorden das Land unsicher machen.«
Im gleichen Jahr sollen die Balver Bürger in der Stadtkapelle gelobt haben, wenn die Schweden die Stadt verlassen, wollten sie dem heiligen Antonius zu Ehren ein Dutzend Kerzen opfern und ein großes Kreuz stiften. Tatsächlich ließ der Pfarrer am 14. September im Wehrenfeld, am Totenweg auf Volkringhausen zu, ein solches Kreuz aufstellen.
Wie schwer sich der Wiederaufbau vollzog und vor allem welch langen Zeitraum er in Anspruch nahm, ersehen wir aus einigen Nachrichten der Wocklumer Markenherren in der Volkringhauser Mark. Diese ließen 1642 ihren Markengenossen mitteilen, dass niemand mehr Holz aus der Mark entnehmen dürfe »er sei wie er wolle«. 1662 liegt das zu Oelinghausen gehörende Binolen-Gut bereits seit mehr als 30 Jahren »oed und wüst«. Die Oelinghauser wollen es »nun richtig wieder einmal besetzen lassen« und erbitten für die Renovierung Holz aus der zu Wocklum gehörenden Volkringhauser Mark. Im gleichen Jahr liegt auch der Tigges Hof schon 36 Jahre wüst und soll wieder aufgebaut werden. Mehr als 30 Jahre also, länger als der Krieg selbst andauerte, benötigte das Balver Land, um wieder zu bescheidenen wirtschaftlichen Anfängen zu kommen.
Zum allgemeinen Nachkriegszustand sagt ein Bericht von 1665 etwas: »während auf den umliegenden Dörfern die Not noch größer ist als in der Stadt Balve, schreibt die Armut des Landvolkes zum Himmel. Die Felder sind verwüstet und öde. Eine Hungersnot folgt der anderen, weil im Frühjahr kaum Saat Getreide vorhanden ist«. Es blieb nicht viel Zeit, um die Höfe wieder auf Vordermann zu bringen. Kölns Anbindung an Frankreich kostete den Balvern vorerst einmal Geld: 1671 werden aus dem Herzogtum Westfalen 36000 Taler zur Aufstellung von Truppen gepresst. Im gleichen Jahr lassen sich wieder Soldaten unter dem Oberst Martin in Affeln und Balver nieder, sie kassieren die Kirmesgelder auf dem Markt. Wie schlecht es um die Finanzen der Stadt Balve und ihrer Bürger in diesen Jahren steht, zeigt die Tatsache, dass der Stadtrichter Antonius Massen 1000 Taler bei einem Franz Heinrich Meyerhofer in Köln anleiht »um nicht mit Weib und Kindern verrecken und krepieren zu müssen«.
Grenzauseinandersetzungen um 1700
Die Not führte zu Mißständen in den Markenwaldungen. Weil die Bauern unbedingt ein Zubrot verdienen mussten, schmuggelten sie verbotenerweise Holz in das märkische Ausland. Und gerade, als die Welt ein wenig zur Ruhe kam, da erinnerten sich die Nachbarn Kurköln und Mark ihre alten Grenzzwistigkeiten. Auf der Strecke zwischen Affeln, Balve und Volkringhausen kam es wieder zu tätlichen Auseinandersetzungen. Von 1715 an melden die Urkunden Grenzauseinandersetzungen für jedes Jahr. Im November starten die Märker einen Sturm auf den Benkamp. Besonders schlimm erwischt es die Affelner am 13. März 1724, als die Märker gewaltsam in die Freiheit vordringen. Eine Verwundeten-Liste jenes blutigen Tages spricht eine deutliche Sprache über die brutalen Methoden des Kampfes, der sich von Mann zu Mann abwickelte. In dem Schriftstück heißt es:
»Herr Patoris Knechte sind grausamlich geschlagen und deren einer mit der Forken in die Backe gestochen und ins Haupt ein Loch geschlagen. Johan Pingel ist an einer Seite das Haupt ganz verwundet, daß ihm das Blut aus den Ohren gefloßen und er dadurch das Gehör verloren. Dem alten Schmied Hering sind zwey Rippen zerschlagen undt ist am Haupt verwundet. Christophoren Hagens Knecht ist dergestalt tractiert, daß bettlägerig und sich nicht regen könne. Königs Schwiegersohn ist mit dem Degen übers Haupt gehauen und dadurch schwer verwundet. Annebest dergestalt geschlagen, daß nicht wisse, ob sein Arm gebrochen oder auseinander. Degenhardts Pferd ist hinten mit Hagel geschossen. Jürgen Baulmann ist in den Fuß geschossen und mit einer Picke in den Rücken gestochen […] Hohan Piepermann ist in den Rücken geschossen, ins Haupt gestochen und dergestalt geschlagen, daß selbigem noch würklich Blut aus Mund, Nase und Ohren fließe, weder hören noch reden könne, annebst schwarz und blau geschlagen«, usw usf.
Siebenjähriger Krieg
Dem 30-jährigen Krieg sollte noch ein siebenjähriger folgen. Die Kolonialpolitik der Mächte Frankreich und England treibt Preußen in eine beklagenswerte Position. Die Konstellationen auf der weltpolitischen Bühne lassen neuen Krieg vermuten, der tatsächlich 1756 nicht mehr abzuwenden ist. Auf westfälischem Boden tummeln sich sowohl französische wie preußische Soldaten. Sie verbrauchen beide vor allem die Getreidevorräte der Bauern des Balver Landes. Vor dem kurfürstlichen Gericht in Balve werden die Liquidationen [sog. Fourage-Fuhren] festgesetzt. Wir kennen die der Gemeinde Langenholzhausen: Drei Fuhren innerhalb eines Monats nach Werl. Es folgen im gleichen Jahr weitere fuhren nach Soest und Arnsberg, selbst »Kugeln und Bomben« transportierten die Langenholthausener an den Kriegsschauplatz. Dennoch bleibt Balver den Kriegsschauplatz fern. Aus den folgenden Jahren sollen einige Notizen zeigen, was unsere Gegend der Kriegsfurie zu leisten hatte: 1759 notiert der Bauer Anton Werren vom »middelsten Hof« in der Grübeck in sein Hausbuch:
»Anno 1759 den 13. Dezember mit zwei Wagen nach Dortmund gewesen und Roggen geladen …«
»Anno 1759 den 14. Dezember aus der Grübecke 10 Mütte Haber … undt 80 Ration Heu und 80 Ration Stroh undt 7 Mütte Haber und Fahrt undt den 15. aus der Grübecke 10 Mütte Haber und Fahrt undt 12 Ration Heu dieses alles nach Unna geliefert«, usw. usf.
Die Langenholthauser Liquidationen wissen für 1762 von Bewirtungen französischer Soldaten zu berichten. Außerdem mussten die Bauern drei Rinder und 1000 Pfund Brot nach Balve liefern. Zusätzlich erhob der Landesherr in gewissen Abständen einen Kopfschatz, den die Bewohner des Amtes zu zahlen hatten, Kriegssteuern in nicht zu geringer Höhe. In den letzten Kriegsjahren litt die Bevölkerung besonders. Oft versteckten sich die Menschen über Tage mit ihren Pferden in den Wäldern. Aus Affeln überlieferte der Pastor schlimme Nachrichten für das Jahr 1761:
»Am 25. Juli habe die Pastorat ganz räumen müssen einen französischen General von Montbesoir, welcher bei sich führte 45 Pferde und 39 Domestiken, welche 14 Tage dahier verblieben. Sämtliche Winter und Sommerfrüchte größtenteils abgemähet und verzehrt, wie denn die ganze Pfarr- und Nachbarschaft von diesen Leuten hat leiden müssen; im hiesigen Orte sind 1200 gewesen; die besten fruchtbarsten Äpfel und Birnenbäume auf der Stummel als auf dem Hofe beim Viehhause abgestammt und abgehauen, haben die Zäune niedergerissen und verbrannt. Im Oktober ist die französische Freipartie vom Fischer-Corps, von Balve kommend, in die Pastorat gefallen. Alles verwüstet, Fenster eingeschlagen, meine wenigen Lebensmittel, Hausgerätschaften Sonstiges geraubt, Bücher zerrissen. Für Reparation der Fenster habe ich zahlen müssen 21 Reichstaler.«
Stellvertretend für ähnliche Ereignisse mögen die oben beschriebenen stehen.
1761 operierten alle vier am Krieg beteiligten Armeen in Westfalen. Für Balve und seine Umgebung rückte nun das tragische Geschehen hautnah heran. Am Morgen des 22. Juni hörten die Balver von Werl Kanonendonner. Bei Unna kommt es zu einer Auseinandersetzung mit dem Feind. Am nächsten Morgen sind die Alliierten zurückgedrängt, und bereits am Abend des 23. Juni rücken die Franzosen in das Amt Balve ein und besetzte die Stadt. Das Ereignis, das wohl am nachhaltigsten bis auf den heutigen Tag in der Erinnerung der Menschen verblieb, war die Tatsache, dass die Franzosen am Morgen des 24. Juni begannen, auf dem Gelände der Kirche eine Feldbäckerei anzulegen. Die französischen Truppen rückten mit ihren Mehlwagen über den Benkamp vor und führten in ihrem Tross unzählige Ratten mit. Was sich dann am Morgen des 24. Juni abspielte, lassen wir den zeitigen Pastor Johannes Schulte erzählen:
»Nachdemahlen die französische Armee im Jahre 1761 den 24ten angefangen die Feldbäckerei zu Balve anzulegen, haben die Franzosen mit Gewalt die Kirchhofsmauer aus dem Grund gebrochen, die Steine und Materialien zu denen auf dem pastoralen Baumhof erbauten Backöfen gebraucht, und keineswegs vergütet. Zum gleichen haben die Franzosen die Kirchenbänke mit Gewalt in Geschwindigkeit aus der Kirchen gerissen, und das Medienmagazin anstatt deren in die Kirche verlegt, obzwaren der Pastor nach der Frühmeß die Pfarrgenossen erinnert, die hin und wieder auf dem Kirchhof zerrissene alte Kirchenbänke zum Bewahr zu sammeln, seynt die mehriste Bänke liegen geblieben, nachgehends unter und ober das aufm Kirchhoff auch gelegte magazin verbraucht, endlich durch und von der Militz verbrennet: dafür ist auch nichts von den frantzösischen Commissarien bezahlet, obzwaren Pastor sich mühe gegeben. Endlich sich umb der Pfarrkirchen und Pastorath schaden halber zu Sr. Churfürstlichen Gnaden öfters suppliciert hat.«
Aus den Urkunden des Pfarrarchivs geht genau hervor, wie umfangreich die französische Proviantanlage war: 42 große Backöfen mauerten sie aus den Steinen der Kirchhofsmauer, auf dem Bauernhof standen davon 26 und auf der Pastoratswiese 16. Weiter standen auf dem Bauernhof, auf dem übrigens sämtliche Obstbäume gefällt wurden, zwei Arbeitshäuser und zwei Brotmagazine, auf der Pastoratswiese ein Arbeitshaus und ein Magazin. Jeder Ofen besaß drei Schornsteine. Auf dem jetzigen Besitztum Gerken richteten die Franzosen zusätzlich eine Metzgerei ein.
Den Schaden, der der Kirche entstanden war, ließ der Pastor genau abschätzen. Die entsprechende Urkunde im Pfarrarchiv ist in französischer und deutscher Sprache abgefasst:
»wir unterzeichnete Richter, Bürgermeister, Pfarrer und werksverständige beglaubigen, das vorstehendes Schadensverzeichnis, welches durch Anlegung 42 Königl. backöfen, Arbeitshäuser und Magazine an den Zubehörungen der Kirche und der Pastoral verursacht ist, so wie es hier gemacht, in Wahrheit beruhe«.
Der Schaden belief sich zusammen auf 1691 2/3 Reichsthaler. Aus eigenen Mitteln ließ Pastor Schulte die durch den Krieg entstandenen Schäden auf dem Kirchengelände wieder ausbessern. Er hat das Geld, nach Lage der Akten, nie wieder zurückbekommen, obwohl später deswegen sogar ein Prozess gegen den Kirchenvorstand geführt wurde.
Während der Zeit der französischen Feldbäckerei musste der Gottesdienst im sogenannten »Wocklumer Häuschen« auf dem Kirchplatz abgehalten werden, womit die Grabkapelle der Familie Schüngel gemeint ist. Die Bäckerei war höchstens 8-10 Tage in Betrieb, dann zogen die Franzosen weiter, während ihre Anlagen in Balve auf dem Kirchengelände in die Hand ihrer Feinde fielen.
Schaden hatte jedoch nicht nur die Kirche durch den Krieg und vor allem durch die Anlage der Banköfen und Magazine. Auch an den Marken muss starker Raubbau betrieben worden sein. In den Wocklumer Archiven findet sich folgende Notiz:
»Es ist während dem Kriege geschehen, dass aus Volkringhauser Mark eine große Quantität Holzes bald nach Balve zur königlich französischen Bäckerei, bald nach Iserlohn, bald nach dem Schloss wohl abgeliefert werden musste. Um nun die Mark zu schonen, ist das “am Gebrannten” gefällte Holz dafür abgefahren worden«.
Ende des siebenjährigen Krieges
Als der Krieg 1763 zu Ende ging, da standen die Bauern des Balver Landes vor verwüsteten Feldern, in den Markenwaldungen ging es drunter und drüber, sodass die ersten Rufe nach Auflösung und Aufteilung in Privatbesitz laut wurden.
Jahrzehnte mussten die Bauern auf die ihnen zustehenden Gelder aus der Kasse des Kurfürsten warten, die ihnen wegen der Fouragefahrten zustanden. 1785 beklagen sich 48 Bürger der Stadt Balve bei ihrem Landesherrn über den Bürgermeister Glasmacher:
»Da wir unterschriebenen bürgeren der Stadt Balve aus denen landschaftlichen archiv in glaubhafter abschrift erhaltenen quitungen ersehen haben, das uns wegen denen im vorgesehenen siebenjährigen Krieg verschiedentlich getahnen portions und fourage lieferungen von hochlöblicher landschaft die vergütung angewiesen, … gelder aber auch von dem bürgermeisteren glasmacher bey der pfennigmeisterey würklich in empfang genommen worden sind, ohn das uns gleichwohlen deshalb der der gebührende antheil bis hiehin ausbezahlt ist, so vereinigen wir uns hiemit deswegen bey seyner kuhrfürstlichen Exelenz die untertänigste anzeige zu thun, wird unser gesuch daher zu richten, daß wir auf aller beste und geschwindeste art zu dem uns gebührenden gelangen mögen, Balve d. 25ten May 1785«.
Koalitionskriege gegen Frankreich
Selbst die letzten Jahre der kurkölnischen Herrschaft in Westfalen ließen das Volk im Balver Land nicht zur Ruhe kommen. Die sogenannten Koalitionskriege der deutschen Fürsten gegen das revolutionäre Frankreich begannen in Balve damit, dass der Kölner Kurfürst seine Werber ausschickte, die auch bei uns Zwangsrekrutierungen und vornahmen. Natürlich passte das den Familien gar nicht, denn jede männliche Arbeitskraft wurde dringend in den einzelnen Wirtschaften benötigt. In den Rekrutierungsakten des Balver Stadtarchivs lässt sich denn auch nachlesen, dass die Balver dem Rekrutenfang, eine Kommission, die in Arnsberg residierte, erhebliche Schwierigkeiten machten. Wohlhabenden Familien gelang es, ihre Söhne frei zu kaufen, und wie eigentlich immer in der Geschichte mussten die Armen und einfachen Bürger- und Bauersleute unter den Kriegsverhältnissen besonders leiden. An der Auslegung der Rekruten beteiligten sich auf Befehl die Balver Schützen, sie geleiteten die vereinnahmten jungen Männer nach Arnsberg, von wo aus die den Truppen zugestellt wurden. Der Ausspruch »über die Wupper gehen« stammt übrigens aus dieser Zeit. Wer dem Kriegsdienst entgehen wollte, der setzte sich ins Ausland »über die Wupper« in das Bergische Land, ab.
Auch dem Anton Cordes gelang es im Jahr 1794, ins Märkische nach Hemer zu fliehen. Allerdings fingen ihn der Kürmann Anton Lösse und der Stadtsekretär Kissingen dort ein und wollten ihn nach Arnsberg bringen. Der Vater des Gefangenen wartete jedoch auf der Höhe von Brockhausen mit einer Schar bewaffneter junger Leute und befreite seinen Sohn.
Eine Urkunde vom 20. Juni 1794 aus dem Balver Ratsakten gibt Einblick in die Rekrutierungsvorgänge jener Zeit:
»Es erschienen die beiden Eingesessenen Levermann und Topp mit Anzeige, dass sie für den von dem Dorf Beckum noch zu stellenden Rekruten den Knecht bei hiesigem Bürger Ernst Wilmes für 150 Reichstaler angekauft hätten. Bei der Eingesessenen baten, den von ihnen angekauften Rekruten über den angeblichen Verkauf zu vernehmen, ihnen sodann das darüber abgehaltene Protokoll mitzuteilen. Bürgermeister und Rat wollen zwar den Knecht über den Verkauf vernehmen, allein erschiene die Verabfolgung für hiesige Stadt um deswillen bedenklich, weil er noch unter die zu Verlosenden für diese Stadt gehörte und in Rücksicht, weil von hiesiger Stadt noch einen Rekrut gestellt werden sollte, so ginge hiesiger Stadt ein Los ab, wenn also das Los diesen Knecht noch treffen sollte, als dann sonst stattdessen vorbesagter Knecht zum Rekruten sich für Balve stellen müsse. Vorbesagte Eingesessene erwiderten, da den Knecht das Los zum Rekruten noch nicht vorbestimmet, so bezweifelten sie auch dessen Verabfolgung nicht, sie wollten indessen die Entscheidung hierüber von gnädigster Kommission einholen, nur baten selbige, den so besagten Knecht so lang bis die gnädigste Entscheidung einlange, auf ihre Kosten bewahren zu lassen. Der als Rekrut eingekaufte Heinrich Brinkmann erschien und erklärte hierzu, der angebliche Verkauf sei ganz unrichtig, sondern er sei zu Balve im Lose und wollte auch für niemand anders als für hiesige Stadt Balve freiwillig gehen, um den von derselben noch zu stellenden Rekruten in seiner Person zu erfüllen. Es erklärte solchem nach der Rekrut Heinrich Brinkmann wie er für den in das Los gefallenen Peter Lösse gehe, wogegen dieser ihm gleich 2 Carolin nach geschehener Annahme zahlt, und dessen Bruder Anton Lösse genannt Ketteler verspricht, danebst dem Rekruten auch für den Fall, dass er verschossen oder sonst in Kriegsdiensten zum Verschaff seines Unterhalts untauglich werden sollte, alsdann wollte er ihm so lange er lebte, Kost und Kleider unentgeltlich geben, gleichwohl so viele, als dessen Kräften dennoch erlaubten, müsse er noch helfen, des Hauses beste zu suchen«.
Des Menschen Leben zählte nicht viel in dieser verrückten Zeit. Knechte verkaufte man hin und her, um die auferlegten Kriegslasten tragen zu können. Menschen wurden in Geld aufgemessen, weil in den Jahren des Elends das Maß für humane Ideen verloren gegangen war.
Während die jungen Menschen des Balver Landes zwangsweise in die Armee des Kölner Kurfürsten verschleppt wurden, strömten aus Frankreich vor den Auswirkungen der Revolution 1789 flüchtende Menschen in das Balver Land. 1794 kamen etwa 30 Personen in die Stadt, darunter einige Geistliche, von denen einer in Balve starb und auf dem Friedhof beerdigt wurde.
Vor den heranrückenden Franzosen flüchtete auch der in Köln tätige Vikar Johannes Hermann-Josef Werren vom »middelsten Hof« in der Grübeck. In der Aufzeichnung des Hofes findet sich darüber eine Notiz:
»Mein Herr Schwager von Köln ist am 2. Oktober 1794 hir angekommen, biß den 13ten august 1796, von hir wieder nach Köln gereist. Bei der Abreise zu mir gesagt, dass er das Kostgeld was er verzehrt für das, was ihm vom gut für seyn kindteil abrechnen wollte und hirmit genztlich getilget sey«.
Der Mittelste Hof in der Grübeck, einer der vermögendsten im ganzen Amtsdrostenbezirk, bewilligte der durch Kriegsschulden in Bedrängnis geratenen Stadt Balve auch ein Darlehen von 900 Talern. Private Gespräche in den Familien zu dieser Zeit drehten sich immer wieder um die Kriegsereignisse, die Angst ging um, das wiederum ausländische Truppen ihr Unwesen in der Stadt und den Dörfern ringsum treiben könnten. Der Brief eines Mitgliedes der alt eingesessenen Balver Familie Cramer, das in Münster ansässig war, an seine Verwandten in Balve ist eindrucksvolles Zeugnis jener Zeit und gibt zahlreiche historische, vor allem aber volkskundliche Informationen:
»Hochwohlgeborener, hochgeehrter Herr Bruder!
Dein Schreiben vom 11ten dieses nebst den Würsten habe zu Recht erhalten, und erstattete dafür den verbindlichsten Dank ab. Es freut mich, dass ihr euch noch sämtlich wohl befindet, habe dir schon zweimal geschrieben, aber bis hiehin keine Antwort erhalten, und wegen dieses Stillschweigen immer gehofft, dass alle mich mit deiner selbst eigenen Person beehren würdet, welches auch hinterblieben. Was uns dahier betrifft, sind wir sämtlich noch frisch und gesund, und heute haben wir schon frische Erbsen und Wurzeln, aber drei Wochen große Bohnen und Kabs, alles stehet gottlob bis hiehin gut, und die vorgewesene Theuerung vermindert sich täglich, der Roggen, welcher dahier 14 rhd kostet hat, wird jetzt schon unter 9 rhd verkaufet.Wegen der zu stellenden Kriegskontingente, was das Münsterland betrifft, bestehet in 800 Mann Infanterie und 400 Mann Cavallerie, nebst der erforderlichen Artillerie, welche alle für Geld geworben werden, haben wir dahier seit dem Februar bis noch immerfort täglich Landtag, und weiß man noch nicht, wann solcher geendiget wird, man weiß dahier von keiner Losung weder gewaltsamen Werbung, sondern Pferd und Leute werden freiwillig für Geld respektive angeworben und angekauft. Hier ist man besorgt, dass die Franzosen ins Holländische einfallen, und durchbrechen werden, wenn diesem nicht vorgebeugt wird, werden alle deren Beute, wo uns Gott vor bewahren wolle. Meine Frau und Tochter empfohlen sich mit mir zu unserer Frau Mutter, der Schwester und zu dir, und sämtliche Angehörigen, besonders an den Herrn Vettern und Frau Base Brunswicker und sind mit steter Hochachtung dein bereitwilligster Bruder, Wilhelm Cramer«.
Französische Truppen in Balve
Die Befürchtungen, dass die Franzosen einfallen könnten, bestanden zu Recht. Schon 1796 zogen die ersten französischen Truppen in Balve ein, und der Stadtsekretär vermerkt lobend die Charakterstärke des französischen Kommandanten, der seine Truppe wohl ordentlich im Zug hatte. Die hässlichen Einquartierungen begannen wieder, die ungebetenen Gäste verschlangen Kosten noch und noch. Wer nicht das nötige Geld aufbrachte, um die Einquartierung bezahlen zu können, der musste bei vermögenden Balver Bürgern borgen. Einige Quittungen hierüber sind erhalten geblieben. Zu den wohlhabenden Bürgern gehört zum Beispiel der Schöffe am kurfürstlichen Balver Gericht, Cramer.
Für das Jahr 1797 notiert Cramer auch die Termine des An- und Abrückens französischer Regimenter. Er schreibt:
»1797 den 19ten, seindt die französischen Dragoner, daß Regiment n. ein. hier gekommen – den 1ten August seindt diese von hier wieder fortgezogen. D. 4ten August seindt diese wieder zurück und hier wieder angekommen«.
Die Liste ließe sich aus der entsprechenden Urkunde weiter fortsetzen und besagt, dass die französischen Truppen auch in unserer Gegend häufiger ihren Standort wechseln mussten. Am 24. Dezember, am Heiligabend des Jahres 1797, bekommt Cramer französischen »Besuch«:
»… habe ich einen französischen Trachtmeister von Menden kommend ins Quartier bekommen mit dem pferdt, ich habe dieselben müssen zwey Spindt haber geben, da sie auf dem Radthause nicht mehr vorrätig waren«.
Für die Einquartierung stellten die Franzosen bestimmte Anforderungen an ihre Quartiergeber. Sie mussten ihnen täglich ein halbes Pfund Brot, ein halbes Pfund Fleisch, Tran zum Schuhschmieren und »zur Erfrischung des Reitzeuges«, Tabak zum Rauchen, Karten zum Spielen, Puder und Pomade und sogar Pulver und Hagel »vor zum Vergnügen Vogel und Hasen zu schießen«. Außerdem verlangten die Franzosen Papier, Gelbband, Leinen, Unterfutter, Reithosen, Kamisöle, Schuhe, Stiefel und größere Kleidungsstücke. Ferner mussten die Quartiergeber den Soldaten das Essen zu Feldübungen bringen. Die Offiziere ließen sich ein Hühnerhaus bauen, dem Kommandanten hatte die Stadt eine Matratze zu liefern und die Kutsche in Ordnung zu bringen.
Als am 28. Juli 1797 dem französischen Kommandanten in Balve zwei Pferde gestohlen werden, lässt die Stadt Schützen des Nachts Patrouille gehen.
Der Magistrat der Stadt Balve beschäftigt sich fast in jeder seiner Sitzungen mit dem Franzosenproblem. Für 1797 ist eine Fouragefahrt Anlass einer Debatte, weil die Lieferung an Getreide möglicherweise gar nicht ihren Bestimmungsort erreicht hat. […] Offensichtlich nutzte der Bauer seine Chance und verhökerte die erst für die Franzosen und später zurückbeorderte Lieferung auf seine Rechnung und erzählte in der Stadt, er habe ordnungsgemäß in Dillenburg abgeliefert. […]
Trotz aller Bedrückung gingen die Balver weiterhin ihren Geschäften nach, auch der Bürgermeister, der offensichtlich in zeitliche Konflikte geriet. In der Magistratssitzung am 7. April 1798 zeigt Bürgermeister Schulte an, dass er das Bürgermeisteramt »allein unter den Bedingungen angenommen, dass die Stadt Balve für allen Schaden und Nachteil so ihm seines Amts halber an Person und Eigentum bei jetzigen Kriegszeiten und sonsten widerfahren könnte, ihn repertabel sein müsse, ferner das er wegen seinem Handel ungestört und unverantwortlich ausgehen und verreisen könne, so daß ihm nichts zu schulden angerechnet werden könne, falls bei seiner Abwesenheit etwas nötiges zu beobachten gewesen wäre, sondern jedes Mal der zweite Bürgermeister verpflichtet sein solle, in seiner Abwesenheit die Funktionen auf sich zu haben und selber in allen vorkommenden Punkten auszuüben, und dafür angesehen sein solle, da er … nächste vorstehende Ostermessen nach Franckfurt seinen nötigen Handelsgeschäften halber zu verreisen, so möchte er hiermit sämtlichen Magistrat und Gemeinheits-Repräsentanten diese seine Reise kundtun, um einen anderen der sei dazu erachteten function des bgmstr aufzutragen«.
Reisen in Kriegszeiten
Wer in Kriegszeiten von Balver aus verreisen wollte, der bedurfte eines Passierscheines, um durch die mit militärischen Fronten zu kommen. 1799 stellte Gerichtsschreiber Brunswick einen solchen aus, der uns übrigens einen genauen Hinweis auf die Bekleidung der Männer zu jener Zeit gibt:
»Hiesiger Bürger, vorzeiger dieses, Johann Theodor Bücker, langer hagerer Statur, bräunlichen Haaren, einen blauen Rock und dergleichen Schmisohl, gelbe Lederbeinkleider, blaue wollene Strümpfe und einen runden Hut tragend, ist gewillt Geschäften halber von hier auf Köln zu reisen, alle Militär als Zivilobrigkeiten werden dahero ersucht, gedachten Jan Theodor Bücker frei pass- und repassieren zu lassen.«
Aufgrund der durch Contributionen, Fouragefahrten und Einquartierungen angespannten Finanzlage der Stadt spielen gerade Magistratsverhandlungen zu diesen Ereignissen eine bedeutende Rolle. Am 23. Mai 1798 tagt auf dem Balver Rathaus der Magistrat […]
Nach dem Dragonerregiment ließen sich in Balve französischen Husaren nieder. Unter ihnen wurden die Einquartierungen so drückend für die Bevölkerung, dass die Ratsverwandten Severin und Cordes eine ordentliche Geldsumme an den Obristen zahlten, damit dieser die Zahl seiner Soldaten am Ort geringer halten würde. Den Balvern war es nicht nur um die zu bewältigenden Kosten bedacht, sie wollten vor allem auch Ruhe und Ordnung in die Stadt einkehren lassen. Soldaten sind rauhes Volk, sie zechten in einer Franzosenkneipe im Mühlenkamp, prügelten sich in der Nacht, stahlen und raubten.
Zweiter Koalitionskrieg, Ende der kurkölnischen Zeit
Im zweiten Koalitionskrieg der deutschen Fürsten gegen die Franzosen zwischen 1799 und 1801 hörten die Drangsale durch die französischen Soldaten nicht auf, zumal Napoleon auch in dieser Schlacht der Sieger blieb. In dieser Auseinandersetzung blieb auch das alte Kurfürstentum Köln auf der Strecke. Durch den Reichsdeputationshauptbeschluss zu Regensburg kam durch geschickte napoleonische Politik das Herzogtum Westfalen zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter die Regierungsgewalt von Hessen-Darmstadt. Bereits am 8. September 1802 rückten die Truppen des neuen Landes in Arnsberg ein.
Die kurkölnische Zeit, die mit diesem Datum endet, hatte den Menschen des Balver Landes unzählige kriegerische Auseinandersetzungen beschert. Das lag nicht immer nur an der Politik der Landesherren in Köln, die sich im Verhältnis zur damaligen Zeit als sogenannte milde Herrscher erwiesen. Dennoch kannte das Balver Land über Jahrhunderte nur Krieg, sah Soldaten vieler Länder in seinen Dörfern und Mauern. Nun brach mit den Hessen eine neue Zeit an; neues Ideengut sorgte für Unruhe.
Kriege musste das Balver Land noch einige über sich ergehen lassen, die in ihren Schrecken dem 30-jährigen und siebenjährigen Krieg in nichts nachstanden.